Sprecher: Sergej Lubic


Eine Räubergeschichte aus dem Termitenbau

Der Mensch ist von Natur ein geborenes Lichtgeschöpf. Dennoch hat ihn seine Kultur vielfältig genötigt, im Finstern zu hantieren, lange hat er in Höhlen hausen müssen, und nachher ersetzten die Höhle die düsteren Gänge und Verliese enger Burgen, die Korridore und Treppen finsterer Schlösser und Häuser. Selbst unsere höchste Technik von heute muß noch im Bergwerk graben, muß Tunnel bohren. Die Phantasie hat das aber immer mit einem gewissen Grauen empfunden.

Aus den schwarzen Schlünden krochen ihr Drachen und Scheusale aller Art ungesehen auf den Eindringling los; in jedem Bergwerk läßt die Sage gespenstische Bergmönche und schwarze Männer umgehen, die den armen Grubenleuten den Hals umdrehen, und im alten Schloßkorridor spukt die weiße Frau. Wo die Dinge aber real bleiben, da bleibt mindestens doch die unheimliche Romantik der » Räuberhöhle« als fester Begriff.
Und doch besaßen wir seit alters wenigstens die Gabe, künstliches Licht da unten mit-hineifrztifiihrefl. Was würden Wahrheit und Dichtung erst für Grauen geschaffen haben, wenn uns Menschen im ganzen das Los für unser Gesellschaftsleben getroffen hätte, das einem anderen, kleineren, ebenfalls überaus geselligen und tatkräftigen Geschöpf unseres Planeten zugefallen ist – das Los: in den Ländern der hellsten, glühendsten Sonne doch fast sein ganzes unsagbar verwickeltes, millionenköpfiges Staatsleben, fast alle Wund er seines patriarchenhaft gesegneten Liebeslebens in künstlich hergestellten finsteren, von keinerlei Kunstlicht erhellten Sehachtgängen auszuleben, ja da drinnen selbst das zu treiben, was das Untrennbarste scheint von Sonne und Licht: seinen ganzen Ackerbau …
Zu den Charaktergebilden tropischer Sonnenlandschaft gehören mitten zwischen der üppigsten sonnenfrohen Vegetation gewisse künstliche Hügel, manchmal bis sieben Meter hoch, steinhart, durchweg von außen abgeschlossen gegen diese Sonnenwelt wie mit solidesten Klostermauern, die finstere Verborgenheit des Innern zu wahren.
Das sind die Bauten der Termiten, seltsamster Insekten, von denen erst allmählich und neuerdings entscheidend bekannt geworden ist, daß die geradezu märchenhaften Taten ihres Soziallebens und »Kulturwesens« fast alles bisher von Ameisen und Bienen Berichtete noch in den Schatten stellen.

Die Termiten sind nach gangbarer Systematik engste Verwandte unserer Küchenschaben oder Schwaden, also körperlich weder den Bienen noch den Ameisen näher vergleichbar.
In solchem, wie gesagt, mehrmillionenköpfigen Staat der auffälligsten tropischen Arten lebt normal nur ein einziges eierlegendes Riesenweibchen, die Termitenkönigin. Bis zu dreißigtausend Eier kann sie an einem Tage legen, ewig so der wimmelnden Volksmasse Abrahams Segen garantierend. Zehn, vielleicht sogar bis fünfzehn Jahre kann sie das so treiben. Und ihr zur Seite steht dabei ebenso lange der ebenfalls nur als einmalige nationale Kostbarkeit vorhandene König.

Zusammen haben die beiden einst den Staat, der später den Hügel bewohnt, individuell neu begründet, indem sie aus einem anderen Staate eines Tages wie zwei Handwerksburschen fortwanderten, sich einten und eine erste schlichte kleine Hütte bauten, in der ihre Hochzeit stattfand und erste Kinderwiege stand. Aber aus dem Segen, der wachsend auf ihnen ruhte, ergab sich bald ein ungeheures Volk um sie, in Kasten geteilt, geschäftige kleine Arbeiter und wehrhafte Soldaten. Dieses »Volk« schützte und fütterte von gewissem Zeitraum an auch das ehrwürdige Elternpaar der Nation, und es fügte durch Unterkellern und überbauen zu der alten Hütte den kolossalen Staatspalast oder besser: das Staatsbergwerk – bis diese Hütte, in der nach wie vor der Urvater und die Urmutter hausten und die Nation weiter und weiter ergänzten und vergrößerten, nur noch ein einzelnes kleines dunkles Kämmerchen im ganzen, die »Königszelle«, darstellte.

Große Schachte ventilieren diesen Gesamtbau, ohne ihn doch im Innern zu beleuchten. Denn wenn die Termiten auch wenigstens zum Teil selber nicht so unbedingt lichtscheu sind, wie man früher wohl meinte, und mehr als die hellende Sonne die trockenheiße Außenluft ihrer Heimatländer scheuen, so bleibt doch tatsächlich ihr. Leben ein extremes Dunkelmännerdasein, dem nicht einmal das winzigste Grubenlämpchen glüht. 
Allenthalben in das düstere Staatslabyrinth aber lagern sich kellerartige Sonderräume ein, in denen als der eigentliche Nationalwohlstand tatsächlich der eifrigste Ackerbau getrieben wird, ein regelrechter Bergwerksackerbau, der in Wahrheit nichts anderes ist als eine ebenso raffinierte wie dem Volkswohl ergiebige Pilzkultur größten Stils.
Das unterirdische Nähgeflecht der Pilze wird auf besonders präparierten Mistbeeten künstlich gezüchtet und liefert vor allem den „Kinderbrei“ für die beständig wie Sand am Meer sich mehrende Jugend des Volkes.

Noch nicht anderthalb Jahrhunderte ist es her, daß wir auch nur ein weniges von diesen Geheimnissen der Termite in ihrem finsteren Hades wissen.  Genauere Beobachtung setzte erst neulich ein, und ganz besonders ist es der ausgezeichnete Münchener Professor K. Escherich gewesen, der in den letzten Jahren durch Zusammenfassung des älteren und reiche Sammlung neuen Materials unsere Kenntnts aufs glücklichste erweitert hat. Je heller jetzt aber wenigstens das Licht unserer Forschung in den Hades leuchtet, desto seltsamer, desto unerhörter werdenc seine teils lustigen, teils grausigen Mysterien. Und ein besonders unheimliches Kapitel betrifft da die »Gespenster« im Bau. 

Auch im Termitenbergwerk gehen graue Gespenster um, die den braven Arbeiter in seiner Nachtr bedrohen, kriechen gräßliche Drachen aus unsichtbarem Höhlengang, die ihn als Beute fortschleppten.
Bald sind diese »Gespenster« fremde Termiten, die in das Labyrinth der normalen Bergwerksgänge ein noch feineres, für gewöhnlich streng getrenntes Laufnetz für sich eingesponnen haben, von dem aus sie diebische Vorstöße in die Vorratskammern der rechtmäßigen Grubenbesitzer machen. 
Bald sind es echte Ameisen, die ebenso aus Geheimgängen, sozusagen aus Wandschranken und unbekannten Hintertreppen, wie langbeinige Spinnen jählings huschend auftauchen und nicht bloß stehlen, sondern auch schon den kleinen hilflosen Termitenarbeiter selbst, dem gerade kein wehrhafter »Soldat« beisteht, gelegentlich überfallen und als Mordbeute verschleppen.
Kleine Käferchen aus der Gruppe der Staphyliniden gleiten wie Gnomen blitzschnell im Finstern vorbei, Kopf und Glieder tief unter einem aalglatten Deckschild verborgen, das die Dienste einer Tarnkappe tut; so unfaßbar wie allgegenwärtig, spielen sie die Hasen in den unter irdischen Kohlfeldern der Pilzgärten.
Ganz scheußlich aber sind die wirklichen »Drachenhöhlen« der Abgrundsnacht da unten, auf die zuerst Escherich bei seinen Studien auf Ceylon aufmerksam gemacht hat.
Besonders in der Nähe der Pilzbeete, wo es stets von Termiten und ammenhaft wartenden und fütternden Arbeitstermiten wimmelt, finden sich flaschenförmige Geheimgelasse, die mit schmaler Pforte in den großen Pilzkeller, der solches Beet umschließt, einmünden. In jeder dieser Extrahöhlen aber lauert ein fettes Ungetüm, das mit seinem flaschenhaft verdickten Bauche genau in die Wölbung paßt.

Dem Blick des Zoologen enthüllt es sich als die wunderlich aufgeschwollene weiße Larve eines karabusähnlichen Käfers namens Orthogonius – also im Sinne unseres Maikäfers als ein »Engerling«. Hier im Termitenschacht aber haben diese Engerlinge sich zu regelrechten Drachen ausgebildet.
Bei Homer lesen wir von der gräßlichen Scylla, die aus engem Felsspalt plötzlich ihre Freßmäuler streckt, um sich am Menschenfleisch harmloser Passanten zu mästen. Und so streckt auch der feiste engerlinghafte Bewohner unseres Geheimschachts nur eben seine spitzen Kiefern aus dem unsichtbaren Hinterhalte seiner Flaschenhöhle vor – wehe aber dem harmlos in die Nähe kommenden Termitenkinde, wehe der nichts ahnend vorbeihastenden treuen Termitenamme! Unerbittlich werden sie gepackt, hereingezogen und bestialisch abgeschlachtet.

Die tückische Falle hat dabei eine ganz frappante Ähnlichkeit mit einer anderen, die bei uns zulande der sogenannte Ameisenlöwe den Ameisen stellt. Bekanntlich wühlt dieser Ameisenlöwe, der ebenfalls bloß die räuberische Larve eines großen, äußerlich libellenähnlichen Fluginsekts ist, im losen Sande zierliche Trichter aus, in deren Mitte er als böser kleiner Minotaurus auf hinabstürzende Ameisen lauert. Das Hinabstürzen befördert er dabei selber durch geschickt zielende Sandwürfe von unten. Auch die kühnste Phantasie würde aber nicht zu erfinden wagen, daß ein Heer solcher Ameisenlöwen ihre Fallgruben mitten im Ameisenhaufen selbst etablierten. Die Engerlinge im Termitenbau haben in ihrer Weise selbst diese tollste Überbietung erreicht! Kein Wunder, wenn sie an so vorzüglichem Fleck Schmerbäuche bekommen. Fast wie die alte Termitenkönigin selber sehen sie endlich aus. Dabei spielt aber offenbar noch etwas Besonderes mit.

Diese staatserhaltende Dame, die Königin, wird, wie gesagt, in allen späteren Semestern ihres gesegneten Daseins von ihren Vasallen, den Termitenarbeitern, künstlich mit einem besonderen Futter ernährt, das diese Arbeiter in ihrem eigenen Leibe wie in einer natürlichen Milchflasche heranbringen und ihr einfüttern. Dabei aber schwillt nun ihr Leib zu vielfach geradezu kolossalen Maßen an, die sie als wahre Riesin über ihrem Volke thronen lassen. Dieser Umfang spielt im ferneren bei ihr ja wieder seine gute Rolle für die doch ebenfalls bei ihr so märchenhaft kolossale nationale Mutterpflicht. Offenbar aber muß in dem Futter, das man ihr eintrichtert, schon etwas stecken, was gerade auf ihn hinwirkt.
Die bösen Engerlinge haben nun auf ihrer Lebensstufe keinerlei eigene Mutterpflichten; hätten sie sie, so würden sie ohnehin ja doch nur wieder neue Drachen erzeugen, sehr zum Unheil des Termitenvolks.
Gleichwohl wirkt auch auf sie offenbar jene Kraft des Futters, das sie vielfältig beim Verzehren ganzer Termiten, die gerade ihre Milchflasche im Leibe gefüllt trugen, einfach mitfressen mußten: sie werden nicht nur wohlgenährt überhaupt, sondern sie bekommen regelrechten künstlichen Königinnenumfang im Sinne königlicher Spezialmast – genau so, als wenn sie selbst gutwillig auf »Königin« von den Termiten gefüttert würden.
Von hier aus ist aber nun wiederum ein höchst wunderbarer Schachzug in diesem verwegenen Spiel möglich geworden.

Zu den Eigenarten, die das königliche Spezialfutter bei der Termitenkönigin hervorbringt, scheint nämlich auch allgemein zu gehören, daß der ungeheure, schließlich einer kleinen Kartoffel vergleichbare Leib dieser Königin einen narkotischen Saft absondert, den die pflegenden Termitenarbeiter mit höchster Wonne schlürfen. Die Lust daran ist so groß, daß es vielfach fast aussieht, als pflegten sie die alte Dame nur deshalb so heiß, weil sie ihnen zugleich diesen Kneiptisch, diese wahre königliche Staatskneipe, eröffnet. Mindestens sind der Trieb zum Pflegen und die Freude an dieser Kneiperei aufs engste bei ihnen aneinander angeschlossen.
Wie aber nun, wenn dieses Narkotikum sich auch bei den Drachen in ihren Höhlen einstellte?
Es ließe sich etwas ganz Nichtswürdiges denken.
Die Engerlingsdrachen kröchen einfach in das offene Termitengewimmel, ja bis in das Heiligtum gar der Königszelle selber hinaus.
Äußerlich der Königin höchst ähnlich in der Leibesgestalt, würden sie von den Termitenarbeitern, die sie nicht sehen, sondern nur fühlen können, für wahre Königinnen gehalten, deren gelegentlich auch einmal nebeneinander nach dem termitischen Hausgesetz nicht ganz möglich sind an gingen also gar nicht mehr aus dem Wege, und ungestört konnten sie ihr scheußliches Räuberhandwerk sozusagen mitten auf der offenen Straße fortsetzen.

Der bekannte Jesuitenpater Wasmann, dessen Philosophie nicht eben jedermanns Sache ist, der aber als Spezialforscher auf diesen Gebieten sich mit Recht allgemeiner Sympathie erfreut, hat gelegentlich da schonvon tapferen Orthogoniusengerlingen selbst vermutet, daß sie solche freien Spaziergänge in Königinnenmaske probierten; Escherich hat es gerade von dieser Sorte Käferlarven indessen nicht bestätigen können. Aber nehmen wir einmal an, andere »Drachen« da drinnen hätten es wirklich gemacht. So mußte die Absonderung auch noch eines königinhaften Narkotikums durch die verkappten Herren Räuber die Situation nochmals ins ganz Tolle weitertreiben.

Die Kneipgelüste der Termitenarbeiter mußten sich nämlich bei Begegnungen mit höchstem Eifer auch diesen Räubern zuwenden. Während die Scheusale rechts und links in die Schar der kleinen Kneipanten im Dunkeln mit Scyllamäulern hineingriffen und nach Herzenslust ihre Opfer massakrierten, strömte die Menge selbst ihnen immer begeisterter entgegen. Da aber der Kneiptrieb so eng mit dem Füttertrieb hier verschwistert war, boten sich die andrängenden Termiten, wenn sie genug gekneipt hatten, gar auch noch den fremden Ungeheuern als freundliche Fütterer dar, suchten sie zu nähren und zu pflegen wie wahrhaftige Königinnen – sie, die im nächsten Moment stets bereit waren, den naiven Fütterer selbst oder irgendeinen seiner Nebenmänner leibhaftig samt dem Futtertopf aufzufressen.

Groteskes Bild: Rausch, sorgende Liebe und rücksichtsloser Mord, alles bunt durcheinander waltend.
Nun ist aber kein Zweifel, daß gerade diese letzte Station der Dinge wirklich existiert. Gewisse fertige Käfer (also nicht bloß Engerlinge) aus der Gruppe der schon genannten Staphyliniden leben genau so im Termitenbau.
Sie haben Riesenbäuche wie Königinnen, laufen frei zwischen dem Termitenvolk herum, schwitzen narkotische Kneipsäfte aus und werden von den Termitenarbeitern mit Königinnenfutter genährt. Letzteres lassen sie sich schon lange ganz gewohnheitsmäßig gefallen, so daß sich sogar ihre Zunge durch Verbreiterung direkt daran angepasst hat. Und doch sind sie ihrem grundlegenden Wesen nach alte Räuber und Termitenfresser geblieben nach wie vor!
Einen Moment könnte man ja versucht sein, zu hoffen, das letzte Stück dieses ungeheuerlichen Weges sei von selber bestimmt, doch noch wieder auf einen Friedenspfad zu führen.
Wenn nämlich jede Termite, die dem Räuber vor den Mund kam, ihn fortan freiwillig fütterte, so brauchte er ja schließlich keine mehr zu fressen!

Die Beobachtungen sprechen bisher aber gegen diesen letzten Schluß. Bei den Ameisen, wo ganz ähnliche »lebendige Kneipen« in Gestalt kleiner Käferchen vielfältig im Bau gehalten und ebenfalls gefüttert werden, haben sich diese zweifelhaften Existenzen doch durchweg nebenher noch als arge Räuber auch so erwiesen, und nicht viel anders scheint es bei den Termiten zu stehen. Die allgemeine und extreme Staatskneiperei, bei der echten Königin anscheinend noch eine gemütliche, ja förderliche Zutat, hat eben zur regelrechten Drachenzucht in diesem sonst so wohlgeordneten Staat verleitet.
Ob die amüsante Geschichte aus Mutter Naturs Skizzenbuch hier am Ende doch noch eine besondere Nutzanwendung hat? »Hingegen soll der Branntwein um Mitternacht nicht schädlich sein.« Die Wahrheit dieses ehrwürdigen Satzes wird beim Menschen neuerdings bekanntlich öfter bestritten. Ob auch in der ewigen Mitternacht des dunklen Termitenbaues die Kneiperei, selbst die staatlich konzessionierte, sich schließlich doch nicht recht bewährt hat, indem sie zu solchen fatalen Extravaganzen führte …?