Sprecher: Sergej Lubic


Das unheimliche Gila-Tier

Durch die Wüsten des Mondes, diese vollkommenen Wüsten, über denen nicht einmal bläuliche Luft zittert und spiegelt, in denen nicht einmal ein ausgetrocknetes, versandetes Flussbett von alten Wassern zeugt, auf denen nicht einmal eine gespenstische Riesenwüstenpflanze wie die Welwitschia unserer Kalahari kriecht – durch diese Öden ziehen sich ungeheure Spalten, die sogenannten Rillen. Bald schnurgerade, bald in scharfem Zickzack durchqueren sie weite, weite Strecken des Mondlandes. Sie sind keine Stromläufe, keine künstlichen Kanäle. Ja, was sind sie? Nie1nand weiß es genau. Vielleicht ist die Mondrinde hier geplatzt in den letzten Zuckungen des Mondinnern. Vielleicht haben die furchtbaren Kontraste von nicht abgeblendeter Sonnenglut und eisiger Weltraumkälte das Gestein zerbersten lassen. Eine ungelöste Frage da oben, wie so viele.

Gewiß aber ist, daß es nur eine einzige Landschaft auf unserer Erde gibt, die äußerlich eine gewisse Ähnlichkeit zeigt mit einer solchen Rillengegend des Mondes: das ist das Wunderland von Arizona in Nordamerika mit seinen berühmten Canons, den »Röhren«, wie sie der Spanier nennt.
Auch hier senken sich in einem wild zerfressenen, vielfach mondhaften Wüstenplateau noch einmal besondere Spaltenabgründe in die Tiefe, wahre »Rillen«, deren größte bei sechzig Meilen Länge sich bis zweitausend Meter tief in den untersten Fels einschneidet, einen exakten Querschnitt durch die ganzen älteren geologischen Schichten der Erdrinde bis zu den entlegensten hinab eröffnend.

Gern möchte man auch bei solchem Canon an furchtbare revolutionäre Ereignisse dieser Erdrinde denken, die sie so bis ins Herz hier zerrissen. Aber wir wissen, daß es ein viel unscheinbarerer Titan gewesen ist, der diesmal seine Macht bewährt hat, nämlich wühlendes Wasser, das sich langsam, langsam in den Block des großen Wüstenplateaus eingefressen und die Canonrillen eingetieft hat – die gleiche Macht also zuletzt, die nach einem einfachen Regen das Sandhäufchen eines Kinderspielplatzes mit kleinen Furchen durchzieht. Kleinste Wirkung, größter Erfolg!
In diesem wilden Lande, diesem Stück Mond auf Erden, aber lebt das Gila-Tier, das unheimliche, das verdächtige, wie der Naturforscher es genannt hat, seit sich von ihm eine bedenkliche Kunde verbreitet hatte.

Wenn in stiller Nacht das Silberlicht des wirklichen Mondes um den Rand einer solchen Arizonarille fließt, in deren schwarzem Grunde tief, tief unten unsichtbar der Coloradostrom geht, so möchte man von Ungeheuern träumen, die sich diesen Höllenschlund zur Höhle gewählt. Die alten Riesensaurier möchte man noch einmal aus den zernagten Schichten des Urweltgesteins hervor kriechen sehen. Aber sie lagen schon längst eingesargt in ähnlichem Fels, als auch nur der erste Spatenstich des wühlenden Wassertitanen einsetzte, der diese zweitausend Meter aushöhlen sollte.
Man muß sich von dem Mondzauber in eine andere, uns sehr viel nähere, obwohl auch höchst seltsame Geschichtszeit verzaubern lassen, um auf die erste Kunde vom wirklichen Monstrum dieser Arizonawüsten zu kommen.
An Arizona grenzt nach Süden Mexiko. Vor rund vierhundert Jahren war’s, bei den alten Mexikanern. Von ihnen vernimmt man zum erstenmal einen Namen für das geheimnisvolle Tier des Canonlandes, das auch bis in ihr Landgebiet hinüberkroch: Tola-Chini. 
Sagendunst aber wob sich seither immer erneut darum. Tatsächlich eine Art Drachensage.

Wenn es auch kein Drache in der Größe sein sollte, so doch einer in der Gefährlichkeit. Ein »männermordendes« Tier, würde der alte Homer gesagt haben. Die späteren Arizonakolonisten tauften es nach dem Ödland im Bereich des Nebenflusses des Colorado, des bald ganz vertrocknendem bald zu Hochwassern schwellenden Wüstenstroms Gila, das »Gila-Tier«.
Und wie dieser Strom, so stiegen und versiegten auch bei ihnen immer wieder abwechselnd die Nachrichten und Legenden über den unheimlichen Gast der unheimlichsten Gegend, bis endlich ganz langsam in neuerer Zeit die Forschung, der vor keinem Gespenst graute, auch hier sozusagen polizeilich feststellen durfte, um was für einen »Bauernschreck« es sich denn eigentlich handle.
Das Gila-Tier existierte tatsächlich. Und es war ein Reptil, also immerhin verschwägert mit den alten Drachen. Eine ziemlich ansehnliche, bald meterlange Eidechse steckte hinter ihm – eine Eidechse aber, die sich – das war das erste Merkwürdige, das sofort auffiel – ausgespart wie ein ganz himmelweit anderes Tier trug, das auch genügend von jeder Sage Stoff geboten, nämlich wie ein Feuersalamander.

Wer an Mimikry glaubte, der mußte annehmen, hier mache eine Eidechse einfach bis zur vollendetsten Täuschung den Salamander nach.
Ein solcher Molch hat eine feuchte, schlüpfrige, kellerhafte Nacktheit, sein Leib gleicht einem feisten Wurm, den vier winzige Beinchen nur mühsam dahinschleppen, Warzen  und Pusteln bedecken seine Haut, dazwischen liegen auf ihrer schwarzen Negernacktheit hochgelbe oder rötliuche Flecken wie rennende Striemen auf.

Dagegen ist das Sonnenkind Eidechse durchweg ein feiner, schlanker Ritter im zierlichsten Schuppenhemd, der in allerlei trockener und sauberer Buntheit und schönen Ornamenten zu kokettieren liebt und flott mit graziöser Taille dahintänzelt.
Ein solches Schuppenkleid hat nun auch das Gila-Tier. Aber seine Schuppen sind zu unregelmäßigen Körnern geworden, die ebenfalls Warzen und Drüsen zu bilden scheinen, und indem einzelne größere Körnerbrocken ein schmutziges fleischhaftes Gelbrot vordrängen, entsteht auch hier der vollkommene Eindruck von rohen Farbpusteln auf einer ekeln schwarzbraunen Nackthaut. Gleichzeitig hat sich der Leib in eine unförmliche, schlecht gestopfte Walze verwandelt, in deren Quellung Kopf und Beinchen fast verloren gehen. Gerollt wie ein wirklicher Wurm liegt das Scheusal so in seinem Wüstenversteck, zweifellos der aller häßlichsten Tiere eines. Wer es plötzlich auf deckt, könnte es für einen modernden Pflanzenrest halten, auf dessen verwester Rinde sich eine hochgelbe Pilzvegetation angesiedelt hat.
Es möchte aber nicht ratsam sein, solches unvorsichtige Aufdecken und Aufwecken. Denn jetzt beginnt das unheimliche Phänomen, dem das Geschöpf der arizonischen Mondwüste seinen eigentlichen Ruf verdankt.

Unter heftigem Zischen hebt das Maul an zu geifern, so heftig, als wolle sich das entwickeln, was bei der afrikanischen Speischlange, einer bösen Najaart, die Regel ist, die auf ein Meter Entfernung dem Angreifer ihren Speichel direkt ins Gesicht bläst, eine lange bestrittene, aber endlich doch bestätigte scheußliche Methode. Doch schon kommt der Biß des Gila-Tiers, ein sehr herzhafter. Die langen krummen Zähne, die für gewöhnlich fast ganz im Zahnfleisch versteckt liegen, werden bei dem Druck selbst erst eigentlich frei und schlagen sich nun nahezu zentimetertief ein. Jetzt aber die Wirkung dieses Bisses … Alles Gräßliche, was dem Monstrum seit alters nachgesagt worden ist, konzentrierte sich von je auf den einen Punkt, daß der Biß die verheerendste, die unmittelbar tötende Wirkung besitze, indem er nämlich in der schauerlichsten Weise vergiftet sei.

Wirkliche Forscher mußten gerade das aber zunächst mit rechtem Befremden hören.
Die Volkssage macht ja gern alle nur denkbaren Tiere, wofern sie nur sonst etwas Verfängliches zeigen, auch zu Giftbeißern. Der Zoologe aber legt hier ein zunächst ganz unanfechtbares Veto ein.
Ein wirklich giftiger Biß als dauernde Angriffs- oder Verteidigungsaffe eines Tieres setzt bestimmte Giftdrüsen voraus, die das Gift liefern. Solche Giftdrüsen kennt man im Reptilienbereich von den Schlangen. Sie treten dort durchweg in Verbindung auf mit besonderen Vorrichtungen an den Zähnen. Gewisse Schlangenzähne sind durchbohrt oder wenigstens zu einer Rinne gefurcht zum Injizieren oder Einlöffeln der giftigen Drüsenabsonderung beim Biß. Hier ist also alles klar.

Eine Schlange aber ist nun keine Eidechse. Von keinem anderen Reptil, also auch von keiner Eidechse, war in vieljährigen anatomischen Untersuchungen je ein solcher schlangenhafter Giftapparat, weder Drüse noch Hohl- oder Furchenzahn, jemals festgestellt worden. Und so schien es zunächst geradezu ein Widersinn, der sich über grundlegende systematische Unterschiede hinwegsetzen wollte, wenn einer mit einer »giftigen Eidechse« kam – mochte sie auch noch so verdächtig aussehen und an einen Molch erinnern (der immerhin in der Haut etwas Gift führt, wenn er auch nie giftig beißen kann), und mochte sie aus noch so verwunschener Gegend stammen.

Eine Weile eröffnete sich also folgerichtig ein heftiger Kampf der wissenschaftlichenT heorie, ehern begründet, wie sie schien, und etwas selbstbewußt, wie einer guten Theorie zukommt, mit der Praxis des unentwegt weiter geifernden und beißenden Gila-Tieres. Gila-Tier, da half kein Mittel, behielt aber auf die Dauer die Oberhand.
Gila-Tier biß Hühner und andere Tiere, und sie starben prompt wie von Schlangenbiß. Die Vergiftungserscheinungen gingen über Lähmung des Atmungsapparats – ganz wie bei Schlangengift.
Gila-Tier biß auch Menschen, und sie hatten ebenfalls fatale Folgen davon. Der Biß brauchte ja nicht immer gleich tödlich zu sein; das ist aber auch der Biß schlimmster Ottern nicht immer.

Das alles aber passierte nicht mehr bloß in der mondhaften Arizonawüste, sohndern auch im Zoologischen Garten, ja beim planmäßigen wissenschaftlichen Experimet. Der Theorie aber wurde schließlich leicht gemacht, klein beizugeben.
Denn anatomische Zergliederung des häßlichen Gilakopfs erwies eines Tages gerade das, was sie zur hartnackigen Voraussetzung genommen. Das Gila-Tier hatte tatsächlich im Unterkiefer zwei dicke, schlangenhafte Drüsen, und seine Zähne waren ganz genau wie die Furchenzähne vieler Giftschlangen mit einer Rinne versehen, durch die der ausgequetschte Drüsengeifer direkt in die Bißwunde eingeträufelt werdenmußte. Diese Eidechse hatte eben einen Schlangenapparat, und damit war das Wunder der Wirkung sehr einfach aufgeklärt.

Immerhin war es ein großer Fund. Bis zum heutigen Tage ist keine zweite »Gifteidechse« mehr zu der einen hinzuentdeckt worden. Auch ein unmittelbarer Verwandter des Gila-Tiers, der seltsamerweise himmelweit entfernt auf Borneo lebt, besitzt die höllische Waffe nicht. Die Mondwüste am Gila hat hier wirklich etwas ganz Besonderes aus sich geboren.
Warum aber gleicht das Gila-Tier nun auch dem Feuersalamander? Von einer Nachahmung, die Schutz gewährte, kann dabei wohl nicht die Rede sein, denn das große Scheusal ist selber doch ein ganz anders wirksamer Gifter als der kleine, beißunfähige, bloß auf der Haut etwas ätzende Molch.

Eher könnte man meinen, die Gifteidechse ahme den Molch nach, um bei ihren nächtlichen Raubzügen im Revier gerade umgekehrt harmloser zu erscheinen als sie ist. Man hat aber die grellgelben Pustelflecken des Molchs auch so gedeutet, daß sie mit ihrer Auffälligkeit größere Angreifer »warnen«, also schon von fern aufmerksam machen sollten, daß es sich um ein giftiges, also auf jeden Fall für sie ungenießbares Tier handle. Da aber nicht nur hier, sondern auch bei anderen giftigen oder sonst ungenießbaren Tieren stets als solche »Warnfarbe« gerade ein ähnliches Gelb oder Gelbrot auftaucht, so wird man zunächst wohl auch an einen direkten chemischen Zusammenhang zwischen Gift und diesem Gelb denken müssen, unbeschadet, daß nachher auch noch solche Nutzzwecke sich mehr oder minder daran angeknüpft haben könnten.

Warum diese natürliche Giftlivree die unheimliche Eidechse nun aber wieder dazu gebracht haben sollte, ihre Schuppen auch in warzenhafte Körner zu verwandeln, die vollends an nackte Molche und Kröten, die Hautgifter und nicht Beißgifter sind, erinnern: das bleibt auch so noch ein Rätsel.
Die Wunder des Gila-Tiers sind offenbar noch nicht zu Ende!
Im kürzlich vollendeten Berliner Aquarium, dieser größten neuen Sehenswürdigkeit unserer Reichshauptstadt, ist es inzwischen lebend zu schauen – in seiner ganzen Scheußlichkeit gelagert auf einem Stückchen künstlichen gelben Wüstenbodens seiner Mondwüste.